Leseprobe - Schneewittchen hat Parkinson

Jans letzter Wille - Jans letzter Weg

Es war ein schöner warmer Tag im Frühjahr eines Jahres, in dem nichts mehr so war wie es sein sollte. Michael war auf dem Weg zu Jan. Seine Gedanken eilten voraus. Wie es ihm heute wohl gehen mag? Er betreute Jan schon einige Zeit im Rahmen seiner ehrenamtlichen Tätigkeit beim Ambulanten Hospizdienst.

Als Michael das freundliche, vom Sonnenlicht durchflutete Zimmer betrat, wirkte es friedlich, ja, schon fast idyllisch. Einige Sonnenstrahlen fielen auf die bunte Bettdecke, auf der ein paar faltige Hände ruhten. Er schlich zum Stuhl, stellte ihn neben das Bett und nahm langsam Platz, um den Schlafenden nur nicht zu wecken. Dessen Kopf ruhte im aufgeschüttelten Kissen, sein schmales Gesicht wirkte heute entspannt, der Mund war geschlossen, die Augenlider zuckten ab und zu. Die Brust hob und senkte sich mit den regelmäßigen Atemzügen. Ein friedliches Bild.

Michael betrachtete den schlafenden Jan aufmerksam. Er besuchte ihn so oft er konnte, um Jans Frau zu entlasten, die Tag und Nacht ihren kranken Mann umsorgte. Jan war ihm auch ein wenig ans Herz gewachsen. Er mochte ihn einfach. Sie konnten viele Dinge miteinander besprechen, aber auch herzlich miteinander lachen. Michael hatte schon viele Stunden an Jans Bett verbracht. Er dachte zurück und ließ die Zeit Revue passieren. Wenn Jan nicht gerade schlief, las Michael ihm gern etwas vor. Diese Momente der Zweisamkeit genossen beide unheimlich. Manchmal verlangte Jan von Michael, dass er ihm seine eigenen Kurzgeschichten vorlesen solle. Anschließend diskutierten sie dann rege über Michaels Literatur, und Michael nahm die Kritik gerne an. Die neuesten Meldungen aus der regionalen Tagespresse interessierten Jan ebenso wie Reiseberichte.

Als Mister Parkinson sein Leben noch nicht so stark dominierte, war Jan mit seiner Frau viel unterwegs, ja, sie hatten tolle und interessante Reisen unternommen. Rügen im letzten Herbst sollte nun seine letzte Reise gewesen sein. Jan wollte noch einmal in seine alte Heimat, so lange er noch dazu in der Lage war, solange, wie Mister Parkinson sich auf diese Reise eingelassen hatte. Seine Frau hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihrem Mann diesen wohl letzten Wunsch zu erfüllen.

Sechs Wochen lang begleitete Michael als Sterbebegleiter nun schon die drei? Drei? Ja, drei, denn Mister Parkinson war inzwischen sehr einflussreich und machte Jan das Leben schwer. „Dieser Dickschädel“ schimpfte Jan, wenn Mister Parkinson einmal wieder zu aufmüpfig wurde. Er lachte dabei spitzbübisch, so, als spräche er von einem alten Jugendfreund. Nun, das war dieser Mister Parkinson nun wirklich nicht.

Der Ambulante Hospizdienst hatte Michael gebeten, sich um Jan zu kümmern, als es Jan immer schlechter ging. Michael hatte ausgiebig Erfahrung in der Begleitung von Sterbenden, und so einen „hartnäckigen Herrn“ hatte er auch schon kennengelernt. Folglich wurde Morbus Parkinson zwischen den beiden oft thematisiert, und Michael erfuhr noch viele Einzelheiten über diese tückische unheilbare Krankheit. So berichtete Jan erst vor ein paar Tagen über die schleichenden Anfänge mit Symptomen, die kein Arzt einer bestimmten Krankheit zuordnen konnte: die Steifheit und die Bewegungsunfähigkeit verbunden mit nicht zu ertragende Schmerzen machten ihm das Leben zur Hölle, auch die unangenehmen Verdauungsbeschwerden gehören zum Krankheitsbild und die quälenden Sprach- und Schluckbeschwerden bis hin zu Lähmungserscheinungen mit Verschlucken oder Erbrechen sind beängstigend. „Vieles ist nur mit strenger Disziplin und großer Geduld zu ertragen“, schloss Jan seufzend seinen Bericht damals. „Regelmäßige Logopädie und Ergotherapie sind notwendig. Doch neben der gut angepassten Medikation ist die ständige Bewegung das Wichtigste, was Mister Parkinson etwas in Schach halten kann.“ Jan lachte. „Da muss man natürlich einen starken Willen haben, denn die zwei Tiere, die außer Gefecht gesetzt werden müssen, haben enorme Kräfte! Meine Frau und ich tanzten mit Freude und unternahmen lange Wanderungen…“

Er blickte wehmütig in die Ferne. „Im Bett liege ich nun schon einige Zeit, ich glaube, bald nach der Rückkehr von Rügen, denn danach verschlechterte sich mein Zustand rasant. Ich werde täglich schwächer“, berichtete Jan und schloss nach der Anstrengung seine Augen. Nach einer Weile schien Jan alle Kräfte zu mobilisieren und begehrte auf: „Doch eines ist ganz wesentlich, nämlich die eigene Einstellung zum Leben, die Akzeptanz des lästigen Begleiters. Und die Integration in das gesellschaftliche Leben, ist die Hälfte der Miete – natürlich der Therapie! Ich kann das behaupten, denn ich hatte noch eine sehr schöne Zeit – mit meiner Frau!“ Dann schwieg er.

Michael saß an Jans Bett und wartete geduldig, bis Jan von Mister Parkinson geweckt werden würde. Manchmal, wenn der Unhold ihm wieder einmal die Kehle zuschnürte und ihn nach Luft japsen ließ, nahm Michael ihn einfach in die Arme und Jan wurde ruhiger, entspannte sich, legte sich zurück auf sein Kissen und forderte nach einer Weile: „So, jetzt hat er sich wieder beruhigt, der werte Mister Parkinson und wird nun weiter aufmerksam zuhören! Kannst lesen!“

Nach so einer Attacke spielten Jans Arme ein eigenes Spiel auf der Bettdecke und wackelten um die Wette, die Beine ließen die Bettdecke erzittern und der Speichel bildete ein kleines Rinnsal auf dem Kinn. Vorsichtig tupfte Michael ihm dann das Kinn trocken. „Danke“, hauchte Jan heute sehr erschöpft und lächelte, wobei sein maskenhaftes Gesicht nichts von seinem Glanz verloren hatte und seine Augen auch heute noch wachsam blieben. „Sing, bitte sing mit mir!“, flüsterte Jan plötzlich aus dem Kissen ohne seine Augen zu öffnen. Michael hatte sich glatt etwas erschrocken, wähnte er doch Jan schlafend, war ganz in Gedanken und doch ganz bei Jan. Was soll ich so spontan singen?, fragte er sich ein wenig überrumpelt, obwohl er diesen Wunsch von Sterbenden kannte.

„Hast du einen speziellen Wunsch?“, fragte er Jan im nächsten Augenblick. Jan hatte in der Vergangenheit ab und zu eine Melodie gesummt. Wie ging die noch gleich? Ja, richtig, Michael erinnerte sich an die Ballade vom Bauern, der ins Heu fuhr und seine Frau allein zurückließ. Die Frau nutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um ihren Liebhaber ins Haus zu lassen. Jan summte bereits die Melodie und Michael stimmte spontan mit ein. Jans Summen war nur schwach zu hören.

Michael begegnete kurz darauf seiner Frau auf dem Flur. „Jan hat ein neues Medikament bekommen“, erklärte seine Frau ihm eben im Vorbeigehen. „Das 57ste, glaube ich – so ungefähr.“ Sie verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern. „Das scheint ihn etwas ruhiger zu machen“, erklärte sie, „aber auch etwas schläfriger.“

Sie sieht müde aus, dachte Michael, eine Erholung täte ihr sicher gut. Er sah sie besorgt an. Na ja, lange wird Jan auch nicht mehr durchhalten, schoss es ihm durch den Kopf. Die Erstickungsanfälle häufen sich und eine Lungenentzündung schwächte ihn zusätzlich. Michael war heute überaus aufmerksam und sehr vorsichtig, ja, geradezu behutsam in der Kommunikation mit Jan gewesen. Natürlich hatte er die dramatische Verschlechterung seines Zustandes während der letzten Tage registriert. Er begleitete Jan deshalb besonders achtsam, indem er auf jede Regung einging und seine Wünsche nach Möglichkeit sofort erfüllte.

„Bitte hol mir ein Vanilleeis“, bat Jan spontan, „mit ganz viel Sahne.“ Mit einem „Ja, gerne!“ erhob Michael sich sofort, ging hinaus und kam bald darauf mit einem großen Becher Eis zurück. Michael reichte ihm Löffel um Löffel. Ganz behutsam führte er ihn an Jans Mund. Jan genoss unendlich. Er wirkte überaus zufrieden und seine innere Ruhe strahlte tiefe Dankbarkeit aus.

Als Michael Jan an diesem Abend verließ, reflektierte er voller Wärme im Herzen und bei großer innerer Ruhe: Es war ein schöner Nachmittag mit Jan, überaus erfüllend, ganz friedlich und bestimmt von einer Leichtigkeit des Seins, trotz aller Belastungen, trotz Tod und Sterben, trotz aller Trauer!

Am nächsten Morgen in aller Frühe schellte das Telefon. Michael ahnte bereits, dass es geschehen war. „Jan ist heute Morgen verstorben – in meinen Armen“, drang aus unendlicher Ferne der Satz an
Michaels Ohr. Mechanisch ließ er sich in den Sessel sinken, verharrte lange in dieser Position, und in der tiefen Stille hielt er Andacht. Er war dankbar und glücklich, dass er sich von Jan mit einem Eis hatte verabschieden können. „Danke, Jan!“



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Charlotte Prang
Diplom-Pädagogin & Heilpädagogin

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